Was ist moralischer Sozialismus?

June 19 - 21, 18 - 20 Uhr
MIRIAM MAKEBA-Auditorium, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Alee 10

Thema

Die politische Theoretikerin Lea Ypi von der London School of Economics wird 2024 den Benjamin-Lehrstuhl des Centre for Social Critique innehaben. Vom 19. bis 21. Juni 2024 wird Ypi in ihren Benjamin Lectures im Haus der Kulturen der Welt in Berlin ihre Ideen zu den Voraussetzungen für eine moralische Version des Sozialismus vorstellen.

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Was ist moralischer Sozialismus? Der Austro-Marxist Otto Bauer schrieb vor mehr als einem Jahrhundert sinngemäß, „wenn wir die Antwort suchen, die wir dem Schwankenden geben können, der uns fragt, ob er Sozialist werden soll oder nicht, dann bedürfen wir auch der Ethik Kants“. Lea Ypi wird in diesem Sinne in den Benjamin Lectures 2024 eine Kritik des Kapitalismus und eine Verteidigung des Sozialismus vortragen, die von der Idee der Aufklärung ausgeht, dass Freiheit moralische Handlungsfähigkeit ist. Ethische Argumente für den Sozialismus folgen für Ypi aus der traditionellen Definition von Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Die Vorlesungen werden dazu drei Hauptthemen behandeln: die Vernunftkritik als Grundlage einer neuen (postkapitalistischen) Gesellschaftsvorstellung, die politischen Folgen eines Freiheitsverständnisses, das von der Idee des Menschen als Zweck an sich selbst ausgeht, und die Bedeutung einer kritischen Geschichtsphilosophie für die Wiederauferstehung der Hoffnung. Ypi untersucht diese Themen sowohl aus einer historischen als auch aus einer analytischen Perspektive und stützt sich dabei auf die Geschichte der Philosophie, zeitgenössische kritische Theorie und liberale Theorien der Gerechtigkeit. Gleichzeitig bewertet sie die Darstellung politischer und wirtschaftlicher Institutionen im traditionellen Marxismus neu. Ihre Auseinandersetzung mit der postkolonialen und postmodernen Aufklärungskritik zeigt deren Grenzen hinsichtlich einer neuen Vision für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Schließlich argumentiert Ypi dafür, dass für den Sozialismus ein politisches Fortschrittsverständnis wichtig ist, das Fortschritt als Prozess des Lernens aus vergangenen Versuchen und Fehlschlägen versteht. Sie regt an, die entsprechenden Bemühungen notwendigerweise als Reflektion der Tragödien des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert aufzufassen, aber auch als Anstoß für die Demokratie, den Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu überwinden.

Mittwoch, 19.06. – Was kann ich wissen?

In dieser ersten Vorlesung definiert Ypi einige Schlüsselbegriffe und untersucht das Verständnis von Vernunft in der Aufklärung. Dabei geht sie insbesondere auf die Frage der Methode und den Versuch ein, einen Weg zwischen Dogmatismus und Skeptizismus einzuschlagen. Sie weist darauf hin, wie dieses Vernunftverständnis historisch dazu beitrug, einerseits die vertikale Unterdrückung von oben durch traditionelle Autoritäten (Kirche, Monarchie, Empire) zu kritisieren sowie andererseits die horizontale Unterdrückung in Marktgesellschaften und durch kapitalistische Praktiken zu problematisieren. Gängige materialistische Einwände gegen eine solche Darstellung, argumentiert Ypi, beruhen auf einer reduktionistischen, individualistischen Auffassung von Aufklärung, die sich durch eine angemessene Neuinterpretation abwehren lässt.

 

Donnerstag, 20.06. – Was soll ich tun?

In dieser Vorlesung weist Ypi darauf hin, dass sich im 21. Jahrhundert eine Kritik des Kapitalismus nicht damit zufrieden geben kann, dessen Widersprüche aufzuzeigen. Eine solche Kritik muss sich wieder der grundlegenden Frage nach der moralischen Rechtfertigung des Kapitalismus zuwenden. Unter Rückgriff auf ein Verständnis der praktischen Vernunft, das Freiheit in den Mittelpunkt stellt, argumentiert Ypi, dass moralisches Handeln mit der Vorstellung einer moralischen Welt einhergeht, in der Menschen sich aufeinander als Zwecke an sich selbst beziehen. Weit davon entfernt, formalistisch oder solipsistisch zu sein, ist ein solches Verständnis dafür entscheidend, Herrschaft und Ausbeutung als ein moralisches Unrecht zu diagnostizieren, das den kapitalistischen Praktiken gegenwärtig eingeschrieben ist.

 

Freitag, 21.06. – Was darf ich hoffen?

In dieser Vorlesung erörtert Ypi, welche Art von politischer Vision erforderlich wäre, um eine Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln. Sie verteidigt eine kosmopolitisch-sozialistische Alternative, die die Kapitalismuskritik mit einer Kritik an Nationalstaaten verbindet und sich von einem Fortschrittsverständnis leiten lässt, das unter Fortschritt das Lernen aus vergangenen Versuchen und Fehlschlägen versteht (einschließlich der Fehlschläge des Sozialismus im 20. Jahrhundert). Zu diesem Zweck verteidigt Ypi eine kritische Geschichtsphilosophie und antwortet auf einige der gängigen postkolonialen und postmodernen Einwände gegen ihren Ansatz.

Die politische Theoretikerin Lea Ypi von der London School of Economics gehört zu den seltenen Talenten, die theoretischen Scharfsinn mit erzählerischer Kraft verbinden. Ihre preisgekrönte Autobiographie „Free“ wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. In diesem Buch erzählt Ypi nicht nur vom Aufwachsen in Albanien, damals eines der paranoidesten und repressivsten sozialistischen Regime Europas, sondern auch von der Verwirklichung voneinander abweichender Freiheitsideen und deren Scheitern. Letzteres erklärt auch, warum Ypi noch immer an sozialistischen Ideen festhält. Für Ypi ist der Sozialismus keine Chiffre für die nostalgische Rückkehr in die Tage ihrer Kindheit, in eine Zeit also, bevor die liberale Schocktherapie den Kapitalismus in Albanien einführte. Sozialismus bezeichnet eine Orientierung, die Ypi für notwendig hält, um den Kapitalismus, den Neokolonialismus und die gegen Migration gerichtete Politik zu überwinden, die sich in den Randzonen der kapitalistischen Zentren besonders verheerend auswirken. Neben „Free“ (Allen Lane 2021) ist Ypi unter anderem Autorin von „The Architectonic of Reason: Purposiveness and Systematic Unity in Kant’s Critique of Pure Reason“ (Oxford University Press 2021) und „Global Justice & Avant-Garde Political Agency“ (Oxford University Press 2017). Ihre Kommentare erscheinen in The Guardian und The New Statesman.

Übergeordnetes Thema Trajectories of Solidarity 2023–2024

Was ist moralischer Sozialismus?

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