Ist es sinnvoll die antirassistischen, antiimperialistischen und feministischen Auseinandersetzungen der Gegenwart als Arbeitskämpfe anzusehen? Nancy Fraser diskutierte die Bezüge von Race, Klasse und Geschlecht anhand der drei Erscheinungsweisen kapitalistischer Arbeit: ausgebeuteter Arbeit, enteigneter Arbeit und Hausarbeit.
Thema
Nancy Fraser ist in ihren Walter-Benjamin-Lectures „Drei Erscheinungsweisen kapitalistischer Arbeit“ von einer erstaunlichen These ausgegangen, die sich in W. E. B. Du Boisʼ Meisterwerk Black Reconstruction aus dem Jahr 1935 findet: Hätten sich die Kräfte gegen die Sklaverei – deren Abolitionismus Du Bois als Arbeiter:innenbewegung charakterisiert – mit den Bewegungen der freien weißen Lohnarbeiter:innen verbündet, dann wäre die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika grundlegend anders verlaufen. Weil sich die „beiden Arbeiter:innenbewegungen“ gegenseitig nicht anerkannten, wurde laut Du Bois leichtfertig die Möglichkeit verspielt, eine Arbeiter:innendemokratie zu errichten. Stattdessen wurde der Weg in die Plutokratie eingeschlagen.
Frasers Vorträge haben Du Bois Überlegung in die Gegenwart hinein verlängert und im globalen Maßstab ausgeweitet. Unter der Bedingung, dass weiterhin Arbeit existiert, die von Abhängigkeit bestimmt ist und deren Ergebnisse enteignet werden, fragte sie: Ist es sinnvoll die antirassistischen und antiimperialistischen Auseinandersetzungen der Gegenwart als Arbeitskämpfe anzusehen, die bisher nur noch nicht als solche anerkannt wurden? Und wenn es so wäre, warum dann an dieser Stelle aufhören? Lassen sich nicht auch feministische Bewegungen als Arbeitskämpfe verstehen, die in einem System geschlechtlicher Arbeitsteilung, in dem die bezahlte „produktive Arbeit“ von der unbezahlten Sorgearbeit geschieden ist, nur nicht als Arbeitskämpfe wahrgenommen werden?
Ausgehend von diesen Fragen hat Fraser dargestellt, dass kapitalistische Gesellschaften von drei Arbeitsformen abhängig sind, die sich zwar analytisch voneinander unterscheiden lassen, die aber wechselseitig miteinander verzahnt sind: ausgebeutete Arbeit, enteignete Arbeit und Hausarbeit. Weiterhin hat sie demonstriert, wie sich im historisch Wandel aus den jeweiligen Beziehungen zwischen diesen drei Erscheinungsweisen der Arbeit die verborgenen Bezüge von Rasse, Klasse und Geschlecht ergeben. Indem sie diese verborgenen Bezüge offenlegte, erörterte Fraser schließlich die Beziehungen von drei, statt zwei Arbeiter:innenbewegungen und beurteilte die Aussichten, sie miteinander zu vereinigen.
Dienstag, 14.06
Gender, Race und Klasse aus der Arbeitsperspektive: Eine post-intersektionale Analyse des Kapitalismus
In ihrem ersten Vortrag Gender, Race und Klasse aus der Arbeitsperspektive: Eine post-intersektionale Analyse des Kapitalismus teilt Fraser die weitverbreitete Unzufriedenheit mit den Spielarten der Identitätspolitik und unterstützt jene Aktivist*innen und Intellektuellen, die die verschiedenen Kämpfe in einem umfassenderen Ansatz vereinigen wollen. Dazu analysiert sie die Abhängigkeit der kapitalistischen Gesellschaft von drei verschiedenen Arten zu arbeiten: ausgebeutet, enteignet und häuslich. Indem sie deren strukturelle Verschlingungen analysiert, offenbart sie die inneren, systematischen Verknüpfungen von Gender, Race und Klasse.
Mittwoch, 15.06
Gewundene Arbeitsgeschichten: Praktische Verstrickungen und politische Verwerfungen
In ihrem zweiten Vortrag stellt Fraser unter dem Titel Gewundene Arbeitsgeschichten: Praktische Verstrickungen und politische Verwerfungen die sich wandelnden Beziehungen der drei Erscheinungsweisen von Arbeit im historischen Verlauf des Kapitalismus dar. Indem sie für jede Ära deutlich macht, wer welche Art von Arbeit verrichtet, aber auch wer als „Arbeiter*in“ anerkannt wird und wer nicht, hebt sie die Verquickung der drei Arbeitsarten in der Geschichte des Kapitalismus hervor und betont die Formen der Missachtung, die jene trennten, die so arbeiteten.
Donnerstag, 16.06
Klasse jenseits der Klasse: Vorschläge für eine Politik der Gegen-Hegemonie
Im letzten Vortrag widmet sie sich dieser Unausgewogenheit: Obwohl ihre Arbeit funktionell ineinandergreift sind die drei Arten von „Arbeiter*innen“ politisch gemäß dem berühmten Dreiklang: Gender, Race, Klasse gespalten. In Klasse jenseits der Klasse: Vorschläge für eine Politik der Gegen-Hegemonie untersucht Fraser Strategien, diese politische Spaltung dadurch zu überwinden, dass sich die „drei Arbeiter*innenbewegungen“ zusammenschließen.
Nancy Fraser is the Henry and Louise A. Loeb Professor of Philosophy and Politics at the New School for Social Research. She is a leading critical theorist and socialist feminist whose work over the past forty years has addressed issues of power, identity, emancipation, capital, justice, and oppression, especially in relation to the limits of liberalism. Working with the broad tradition of Foucault, Habermas, and the Frankfurt School, Fraser has focused on structural injustice, with attention to the conceptual and ideological underpinnings that sustain it. Her focus is the critique of capitalism, which she conceives broadly, not as an economic system, but as an institutionalized social order, which harbors multiple forms of oppression and crisis tendencies.
Some of her canonical works include Redistribution or Recognition? A Political-Philosophical Exchange with Axel Honneth and Fortunes of Feminism: from state-managed capitalism to neoliberal crisis. More recently, she published Feminism for the 99%: A manifesto with Tithi Bhattacharya and Cinzia Arruzza, Capitalism: A Conversation in Critical Theory with Rahel Jaeggi, and The Old is Dying and the New Cannot Be Born with Bhaskar Sunkara. She is currently preparing a new book: Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy, Care, and the Planet and What We Can Do About It (to appear in autumn 2022).
„Wir haben der Begriff der Arbeit viel zu eng gefasst“ – Nancy Fraser im Interview mit Raul Zelik, WOZ Die Wochenzeitung.
„Gemeinsamer Arbeitskampf statt Identitätspolitik?“ – Jonas Lang berichtet über die Lecture auf Theorieblog.de.
„Eine Physiognomik kapitalistischer Arbeit“ – Martin Bauer und Jens Bisky berichten über die Lectures auf Soziopolis.
„Wir leben in einer Zeit morbider Symptome“ – Nancy Fraser im Interview mit Deutschlandfunk Kultur.
„Wir müssen die Werte auf den Kopf stellen“ – Nancy Fraser im Interview mit dem Philosohpie-Magazin.
„Der Kapitalismus kannibalisiert seine eigenen Grundlagen“ – Nancy Fraser im Interview mit Zeit-Online.
„Topographies of Kapital. Gender, Class and Nature in Fraser’s Critical Theory“ – Caitlín Doherty on Nancy Fraser in New Left Review