Hanna Hoffmann-Richter

Veranstaltungsbericht zum Barrikadengespräch „Abolitionismus: Abschaffung oder Reform?“

17 Juni 2025

Fast zweihundert Menschen kamen am Abend des 5. Juni 2025 in den historischen Tanzsaal des Refugio, um das Barrikadengespräch zwischen Simin Jawabreh, Tommie Shelby und Vaneesa Thompson über die Abschaffung oder Reform von Grenzen, Gefängnissen und Polizei zu verfolgen. Im Refugio mitten in Nordneukölln leben, arbeiten und organisieren sich seit 2015 Neu- und Altberliner:innen.

Charlie Ebert moderierte das Gespräch. Angesichts der regressiven Entwicklungen in der Asyl- und Migrationspolitik und der staatlichen Mehrausgaben für Polizei und Militarisierung bei gleichzeitigen Sparmaßnahmen in Bildung, Kultur und Sozialem ging es darum, sich theoretisch und praktisch mit Abolition zu befassen. Abolition bedeutet hier die Abschaffung oder radikalen Reform von Grenzen, Polizei und Gefängnissen. Shelby ist der Ansicht, dass diese Institutionen nicht zwangsläufig rassistisch operieren müssen, allerdings radikaler Reform bedürften. Thompson und Jawabreh sind weniger optimistisch und zielen auf eine völlige Abschaffung dieser Institutionen, die einhergeht mit dem Aufbau anderer sozialer Organisationsformen, die Grenzen, Polizei und Gefängnisse überflüssig machen.

In der Diskussion ging es zunächst um das Verständnis von Rassismus. Denn Abolitionismus, ursprünglich der Name der Anti-Sklaverei Bewegung, interessiert sich deshalb für Grenzen, Gefängnisse und Polizei, weil diese in ihrer bisherigen Form, vielleicht aber auch notwendigerweise rassistisch operieren und sozialen Wandel in Richtung von mehr Überwachung und autoritärerem Staatshandeln vorantreiben. Während Shelby unabhängig von möglichen Verschränkungen von Rassismus und Kapitalismus insbesondere darauf einging, wie sich Rassismus auch ohne den Willen der Beteiligten fortsetzen kann, ging es Thompson und Jawabreh in ihrer Argumentation sehr stark darum, zu zeigen, dass Kapitalismus und Rassismus von vornherein verschränkt sind.

Unter die Formen von Rassismus, die keinen absichtsvollen Rassismus voraussetzen, fasst Shelby erstens ideologischen Rassismus: d. h. Narrative, die rassistische Benachteiligung als gerechtfertigt erscheinen lassen und oft mit Konzepten von Gender, Nationalität und Religion verschränkt sind; zweitens institutionellen Rassismus, d. h. Regeln und Ansätze in Institutionen, die de facto rassistisch benachteiligende Effekte haben, ohne dass die Institutionen die Benachteiligungen, die sie verstärken, notwendigerweise selbst verursacht haben; drittens strukturellen Rassismus, eine Unterform des institutionellen Rassismus, die auf dem Langzeiteffekt von Sklaverei und Kolonialismus beruht. Selbst wenn sich davon ausgehen ließe, dass kein absichtsvoller Rassismus mehr geschähe (was nicht der Fall ist, wie Shelby selbst mehrfach hervorhob), würden diese drei Formen von Rassismus weiter wirken.

Jawabreh betont die historisch enge Verschlingung von Kapitalismus und Rassismus. Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus wurden sowohl in Europa unzählige Menschen von ihrem Land vertrieben und gewaltsam in die neue Rolle der Lohnarbeitenden gedrängt als auch auf anderen Kontinenten unzählige Menschen versklavt. Viele in diesem Zuge eingeführte Kontrollmechanismen hätten sich bis heute gehalten – z. B. die Erfassung von Fingerabdrücken, die zuerst von britischen Kolonialbeamten in Indien als Kontrollinstrument über die Lokalbevölkerung eingesetzt wurde. Jawabreh vertritt zudem die These, dass Rassismus für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung konstitutiv ist.  Kapitalismus sei grundsätzlich auf die Existenz unterschiedlicher Formen von Ungleichheit angewiesen. Das aktuelle deutsche Wirtschaftssystem würde Jawabreh zufolge nicht funktionieren, ohne dass Grenzen als „Filtermaschinen“ Migrant:innen mithilfe von legal/illegal, gebraucht/überflüssig und anderen Trennungen in unterschiedliche Arbeitsregime einordnen.

Auch Thompson sieht „Racial Capitalism“ als sinnvollen Rahmenbegriff, um über Rassismus als soziales Verhältnis nachzudenken. Darin werde deutlich, wie Rassismus Stratifizierung verdeckt und Überausbeutung legitimiert – und Antirassismus daher immer auch Klassenkampf bedeuten muss. Gleichzeitig sei es ihr wichtig, Rassismus nicht auf Ausbeutung zu reduzieren. Rassismus bedeute z. B. vielfach auch den frühen Tod. Außerökonomisch könne Rassismus ein Eigenleben entwickeln, das bis zu genozidalen Formen führe. Die Form und funktionale Rolle von Rassismus ändere sich, nicht zuletzt als Antwort auf seine Bekämpfung, z. B. in der Verschiebung von biologischem zu kulturellem Rassismus. Rassismus, der durch Grenzen, Gefängnisse und Polizei realisiert wird, wie z. B. überproportionale Inhaftierung bestimmter rassifizierter Gruppen, wird „karzeraler Rassismus“ genannt. Dessen funktionale Rolle sei, mit „surplus population“ umzugehen – ein Rassismus, von dem auch weiße Niedriglohnarbeiter:innen als Teil der „undeserving poor“ mitbetroffen seien.

In einer zweiten Runde ging es um konkrete Strategien und Visionen der Abschaffung bzw. radikalen Reform von Grenzen, Gefängnissen und Polizei.

Jawabreh machte deutlich, dass nicht wenige der Inhaftierten in Deutschland Ersatzfreiheitsstrafen absitzen, weil sie sich Bußgelder nicht leisten können – eine Inhaftierung von Armen, deren Armut unsere Gesellschaft selbst produziere. Generell sei Kriminalität ein soziales Problem und ihr als solchem nur durch soziale Lösungen zu begegnen. Zwischen Abolition und (radikaler) Reform sieht sie in Bezug auf aktivistische Strategie dabei keinen wesentlichen Unterschied, da wir uns selbst blockieren würden, wenn wir Grenzen, Gefängnisse und Polizei nur als Ganze abschaffen wollen und sie nicht Stück für Stück abbauen und obsolet machen. Und auch im Kampf für Abolition brauche es an manchen Stellen Techniken des Containment – wie beispielsweise Kurd:innen IS-Kämpfer:innen gefangen halten. Das sei jedoch keine langfristige Lösung.

Für Shelby dagegen ist Reform nicht nur Strategie, sondern auch Teil der Vision: Inhaftierung bei Schwerverbrechen wie Vergewaltigung oder Mord sieht er grundsätzlich als probates Mittel an. Und das auch nach einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der viele Gründe, aus denen gerade inhaftiert wird, obsolet macht. Allerdings sollte ihm zufolge vieles von dem, was auch nach einer Entkriminalisierung diverser Überlebenspraktiken noch unter Kriminalität fiele, seiner Ansicht nach keine Haftstrafe nach sich ziehen.

Thompson grenzte sich mit scharfen Worten von Shelbys Reformbestrebungen ab. Es brauche eine radikalere, mutigere Vision, die bei den konkreten Schritten nicht aus den Augen zu verlieren sei. Wenn wir ein System, das beständig Menschen ausschließe, im Zuge von Reformen konstant wiederneuauflegten, dann führe das zu nichts Gutem. Ihr zufolge müssten wir uns bewusst sein, dass Polizei und Grenzen qua ihres Funktionierens grundsätzlich Überwachung und autoritäreres Staatshandeln vorantreiben. An dieser Stelle wäre eine vertiefende Diskussion zwischen Thompson und Shelby spannend gewesen.

Wie kann Abolitionismus in der Praxis aussehen? Hierzu wurde Jawabreh am konkretesten: In Ausschnitten erzählte sie von revolutionärer Stadtteilarbeit, vom solidarischen Verhindern von Abschiebungen durch die Kiezgemeinschaft und einer generellen Gleichzeitigkeit von einem Aufbau an Gegenmacht zum Schutz derer, die im Kiez leben vor Polizeigewalt und anderen Formen staatlicher Übergriffigkeit als auch dem Aufbau außerstaatlicher Strukturen zur Bewältigung von Problemen und Konflikten. Sie habe es zum Beispiel als Moment der Hoffnung erlebt, als eine Frau, der häusliche Gewalt widerfahren ist, und die versuchte, diesbezüglich jenseits von polizeilicher Intervention und Gerichtsverfahren Wege zu finden, im Stadtteilladen von ihrer Situation erzählte und Unterstützung aus dem Kiez bekam. Oder auch, als letztes Jahr im Zuge der Diskussionen um die Sicherheit in Berliner Freibädern große Kundgebungen vor den Freibädern gegen die Ausweiskontrollen und den diskursiven Rassismus stattfanden, Jugendliche gemeinsam mit im Freibad Angestellten mehr Gehalt für jene gefordert haben und Allianzen mit Aktivist:innen gegen sexualisierte Gewalt gebildet wurden. Jawabreh zufolge ist es gerade auch angesichts dessen, dass die außerparlamentarische Linke den Bezug zur Bevölkerung vielerorts verloren hat, unabdingbar, Gegenmacht durch kontinuierliche Basisarbeit im Viertel neu aufzubauen. Dabei gehe es nicht darum, selbstverwaltete Inseln zu schaffen, sondern sich in einem Netzwerk von Räten und auch international im Antagonismus zum Staat zu organisieren.

Es wäre wünschenswert gewesen, einige dieser Punkte noch genauer zu diskutieren. Beispielsweise stellt sich die Frage, wie bei gemeinschaftlich getragenen autonomen Lösungen von Problemen im Kiez vermieden werden kann, dass sich dabei Formen von Selbstjustiz verselbstständigen. Oder wie vermieden werden kann, dass die Menschen überfordert werden, die in Situationen wie dem geschilderten Fall häuslicher Gewalt Prozessverantwortung übernehmen.

Auf die Frage aus dem Publikum, wie eine positive Vision abgeschaffter Grenzen aussehen könne, auf die das gegenwärtige demokratische System in Bezug auf die Bestimmung der wählenden und zu regierenden Bevölkerung angewiesen ist, wurde vom Podium her zunächst mit weiteren Gründen für die Abschaffung von Grenzen und weniger mit einer Vision geantwortet. Auf eine Frage zur Imagination generell antwortete Thompson jedoch, dass wir uns aus der aktuellen Situation nicht durch Vorstellungskraft befreien könnten. Wir müssten uns daraus herauskämpfen, ganz materiell. Oft entstünden neue Imaginationen erst aus der Praxis. Auch Jawabreh meinte: „Wir müssen mehr aufbauen, um uns auch mehr vorstellen zu können.“

Wer sich für diese Themen genauer interessiert, sei auf die Publikationen der Diskutant:innen verwiesen: Tommie Shelby hat 2022 ein Buch mit dem Titel The Idea of Prison Abolition veröffentlicht, Vanessa Thompson hat 2022 den Sammelband Abolitionismus. Ein Reader herausgegeben und Simin Jawabreh publiziert regelmäßig im Jacobin Magazin, in Analyse & Kritik und sowie bei Neues Deutschland zu abolitionistischen Themen.

Hanna Hoffmann-Richter, «Veranstaltungsbericht zum Barrikadengespräch „Abolitionismus: Abschaffung oder Reform?“», criticaltheoryinberlin.de [online], published online 17 Juni 2025, accessed on 18 July 2025 URL: https://criticaltheoryinberlin.de/interventions/veranstaltungsbericht-zum-barrikadengespraech-abolitionismus-abschaffung-oder-reform-am-5-6-2025/;

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