Social Transformation 2022-2023
The times they are a-changinʼ – die Welt verändert sich. Sie verändert sich nicht erst seit heute und in den meisten Weltgegenden sind die damit einhergehenden Krisen seit langem existentiell für die übergroße Mehrheit der Menschen, die dort leben. Doch inzwischen wird selbst in den globalen Wohlstandszentren die „Zeitenwende“ ausgerufen, weil sich die Krisen überschlagen und sich in ihrem Zusammentreffen gegenseitig verschärfen. Noch wird das Wort „Zeitenwende“ wie ein Abwehrzauber gebraucht, der verhindern soll, dass sich die Veränderungen im Rest der Welt auch dort, wo sich Entscheidungsgewalt und Wohlstand akkumulieren, massiv auswirken. Aber zugleich wird mit der Ausrufung der „Zeitenwende“ auch ein grundlegender Umbau der westlichen Gesellschaften gefordert, inklusive einschneidender „Zumutungen“: [Y]ou better start swimminʼ or you’ll sink like a stone.
The order is rapidly fadinʼ – die Welt verändert sich. Und die Veränderung der Welt, die bereits stattfindet, ist trotz aller Eigendynamiken ökologischer, ökonomischer und politischer Natur kein Prozess, der sich einfach vollzieht. Die Veränderung der Welt wird auch vorangetrieben und gestaltet. Oft geschieht das wenig transparent und im Auftrag derer, die über die ökonomische und politische Macht verfügen, ihre Interessen zu schützen und durchzusetzen. Als umfassender Veränderungsprozess fordert die Veränderung der Welt aber ihre Gestaltung durch alle und im Interesse aller geradezu heraus. Die sich vollziehenden Veränderungen erfordern den Übergang zur bewussten emanzipatorischen Veränderung, zu einer regelrechten Revolution. Und so sehen wir, wie zahlreiche politische Bewegungen – mit durchaus widerstreitenden Motiven, Ansätzen und Zielen – für umfassende und strukturelle Veränderungen der aktuellen Lebensweise und des gesamten Gesellschaftssystems kämpfen. There is battle outside and it is raginʼ.
Wie, von wem und in welcher Form der entsprechende systemische Wandel herbeigeführt werden kann, bleibt dabei aber umstritten und in vielen Fällen auch notorisch vage. Offenkundig ist es falsch, die Dringlichkeit der einen Krise gegen andere gesellschaftliche Konflikt auszuspielen. Auch bleibt an der Einsicht festzuhalten, dass sich viele gesellschaftliche Konflikte nicht auf Klassenauseinandersetzungen reduzieren lassen, dass aber auch kein anderer gesellschaftlicher Konflikt eine derartig zentrale Rolle spielen kann, wie sie einst dem Klassengegensatz zugeschrieben wurde. Es gibt in der Gegenwart keinen privilegierten Konflikt, von dem aus sich alle anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verstehen und gemeinsam führen ließen. Trotzdem lautet das Motto: Come gather ’round people/Wherever you roam.
Dass es kein eindeutiges Zentrum der Krisen und Konflikte gibt, heißt nämlich nicht, dass diese isoliert voneinander existieren oder nicht aufeinander bezogen werden könnten. Für eine bewusste Veränderung der Welt in emanzipatorischer Absicht ist es sogar notwendig, solche Beziehungen herzustellen. Formen der Solidarität müssen über die Felder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen hinweg entwickelt werden, und die politischen Subjekte, die die neuen Formen der Solidarität praktizieren, müssen alte Interessen und Identitäten überschreiten und zusammenführen. Dass die Gesellschaft über solche Formen der Solidarität und Praktiken der Transformation nicht in ausreichendem Maße verfügt und stattdessen immer wieder Entsolidarisierungsprozesse in Gang gesetzt werden, verstärkt die Krisen und verhindert ihre Lösung. Solche Blockaden notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen zeigen aber auch, dass Empörung als Reaktion auf die Veränderung der Welt allein zu wenig ist. Zu ihr muss eine Analyse und Kritik der Gesellschaft treten, die aus ihren inneren Wirkungsmechanismen heraus Entsolidarisierung produziert, statt Solidarität zu ermöglichen. Come writers and critics […] And keep your eyes wide.
Entsolidarisierung ist eben nicht nur das Ergebnis einer falschen politischen Entscheidung für eine (oft genug nur vermeintliche) Besitzstandswahrung oder die Verteidigung eigener Privilegien. Entsolidarisierung ergibt sich auch daraus wie die Gesellschaft die Beziehung von Individuen und ganzen Gruppen zueinander strukturiert. Insofern schließt das Jahresthema 2022/23 an das Thema des Vorjahres „Structures of Domination“ an. Auch bei der Frage nach der Veränderbarkeit einer sich verändernden Welt spielt das Verständnis von Gesellschaft, der Zusammenhänge, die sie stiftet, und der Art und Weise, wie solche Zusammenhänge gestiftet werden, eine entscheidende Rolle. Was sich verändern lässt, muss einerseits kontingent sein, andererseits sind Dynamiken und Konvergenzen gesellschaftlicher Entwicklungen aber gerade nicht zufällig oder willkürlich, sondern durch den systematischen Zusammenhang sozialer Praktiken und Konflikte bedingt. Ohne ein Verständnis dieser Zusammenhänge muss jede Veränderung der Welt scheitern, die bewusst auf Emanzipation zielt. Don’t criticize/What you can’t understand [sprich: what you haven’t properly analyzed].
So unverzichtbar es ist zu wissen, wie die Welt funktioniert, die sich verändert und die verändert werden muss, so wichtig ist es auch zu verstehen, was wir meinen, wenn wir von radikalem Wandel, grundlegender Veränderung oder gar Revolution einer gesellschaftlichen Ordnung sprechen. Reicht es, dem König den Kopf abzuschlagen, die Regierung zu stürzen oder die Eigentümer:innen der Produktionsmittel zu enteignen? Seit den bürgerlichen Revolutionen in Nordamerika und Frankreich wurden Gesellschaftssysteme nicht nur grundlegend verändert – das geschah auch schon vorher –, sondern es wurde außerdem zunehmend darüber nachgedacht, welche Veränderungen als Verbesserung und Fortschritt begriffen werden können und sollen. Neben dem Nachdenken darüber, was eine Gesellschaft besser macht, gehört zu den Theorien gesellschaftlicher Veränderungen, die sich seitdem herausbildeten, auch eine Reflexion der Mittel, mit denen soziale Transformationen herbeigeführt werden können: Bürgerkrieg, Aufstand, Revolution, Generalstreik, Eroberung des Staates, aber auch Reform, Exodus, Abolition, Gegenkultur und alternative Ökonomie sind nur eine Auswahl der Ansätze die in Theorie und Praxis entwickelt wurden, um dem Lauf der Welt eine veränderte Richtung zu geben. Diese Theorien und Ansätze haben inzwischen ihre eigene Geschichte, die zeigt, dass die Veränderung der Welt weder einer vorgezeichneten Bahn zum Guten (oder Schlechten) folgt, noch das Ergebnis eines reinen Entschlusses ist, mit dem eine Ordnung kontingenter Zusammenhänge gestiftet wird. Die Entstehung und Krisen der Theorien und Ansätze zur Veränderung der Welt, die sich im gesamten Spektrum zwischen diesen beiden Extremen bewegen, sind eng an Erfolge und Niederlagen gebunden, die die Versuche zeitigten, die Welt zu einer besseren zu machen. Your old road is rapidly agin’
Die Konzepte zur Veränderung der Welt lassen sich deshalb nicht einfach aufrufen. Sie entstehen in der kritischen Auseinandersetzung mit dem politischen Vokabular, und sie entwickeln sich weiter, wenn versucht wird mit diesem Vokabular, die Herausforderungen der Zeit auf eine Weise zu identifizieren und zuzuspitzen, die zur Überwindung der Krisen beiträgt. Wir wollen also im kommenden Jahr verstehen, wie Krisen gesellschaftliche Veränderung antreiben, welche Rolle gesellschaftliche Akteure dabei spielen können und welche begrifflichen Instrumente solchen Akteuren zur Verfügung stehen und gestellt werden können. Besonders interessieren uns dabei neue Formen der Solidarität, das Zusammenspiel gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse, Blockaden gesellschaftlichen Fortschritts, die Rolle sozialer Bewegungen und Konzepte gesellschaftlichen Wandels. For the times they are a-changin’
Events
- Mai 23 2024 | Kritische Intellektuelle – Emanzipatorische Praxis
- Juni 27 2023 | Workshop – Ideology and Social Transformation
- Juli 5 2023 | New Revolutionary Subjects: In memoriam Herbert Marcuse
- Februar 20 2023 | Change². The Disruptions of Social Structures