The Colors of Capitalism 2024–2025
The Colors of Capitalism 2024–25
Die bürgerlichen Revolutionen gingen mit der Proklamation von Menschen- und Bürgerrechten einher, die der Knechtschaft ein Ende setzen sollten, einige der vorkapitalistischen Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Leibeigen- und die vererbliche Schuldknechtschaft, auflösten und andere, wie die patriarchalische Herrschaft, grundlegend transformierten. Die universalistische Ausformulierung der Rechte setzte zudem eine politische Dynamik in Gang, die – wie es im Kommunistischen Manifest heißt – alle festen, eingerosteten Verhältnisse auflöste, alles Ständische und Stehende verdampfen ließ. Im Ergebnis dieser Dynamik kam es auch zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt zur Entstehung von gesellschaftlichen Bewegungen, die sich die Befreiung von Arbeiter:innen und Frauen, den Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus und eine Vielzahl weiterer Ausgrenzungs- und Ausbeutungsmechanismen explizit auf die Fahnen geschrieben haben.
Dass Dynamiken, die diese emanzipatorischen Bewegungen mit hervorbrachten, Teil der kapitalistischen Gesellschaftsordnungen waren, kann nicht verdecken, dass diese ökonomische Ordnung auch entgegengesetzte Wirkungen hat, gegen die sich die geschichtlich neuen Kämpfe um Befreiung richteten. Auch heute ist offensichtlich, dass der Kapitalismus in vielen Hinsichten nicht so vielfältig und „bunt“ ist, wie es auf der glitzernden Oberfläche von Image- und Werbefilmen scheint. Fortwährend werden in ihm soziale Gruppen und ganze Teile der Welt systematisch abgewertet, der unverschleierten Ausbeutung und dem ökologischen Raubbau ausgeliefert, ohne dass dies die proklamierten Werte von Freiheit und Gleichheit in Frage zu stellen scheint. Im Forschungsschwerpunkt „Colors of Capitalism“ geht es darum, diese Gleichzeitigkeit zu verstehen.
In vielen Diagnosen der Gegenwart erscheint der Kapitalismus als ein einziger, fortgesetzter Raubzug, der von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Die Belege für diese Bewertung reichen vom anhaltenden Landraub über die systematische Enteignung natürlicher Ressourcen und gesellschaftlichen Reichtums bis zur Verwüstung immer größerer Teile der Erde durch industrielle Produktion und Landwirtschaft und die Verwandlung des Planeten in eine Giftmülldeponie. Solche Diagnosen haben zweifelsohne ihre Berechtigung. Die Charakterisierung als Raub steht aber in der Gefahr, davon abzulenken, was für den Kapitalismus charakteristisch ist, was ihm seine Dynamik und seine produktive Kraft verleiht: die permanente Mobilisierung von Ressourcen, Menschen, Material und Wissen, um durch die Produktion und den Absatz von Waren ökonomische Macht zu erhalten und zu steigern.
Die dabei entstehende Produktivität ist ein wesentliches Moment, das den kapitalistischen Ressourcenhunger antreibt. Die spezifische Form der Rationalität des Kapitalismus, immer mehr mit immer weniger Aufwand an Mensch und Material herstellen zu können, schlägt um in eine ebenfalls spezifische Form der Irrationalität, bei der die Steigerung der Produktion zur ökonomischen Notwendigkeit wird, auch wenn sie auf Kosten von Menschen und sogar der Überlebensfähigkeit der Menschheit und damit des Kapitalismus selbst geht. Wird dieser Zusammenhang von kapitalistischer Rationalität und Irrationalität, die beide von der Konkurrenz im ökonomischen System angetrieben werden, nicht verstanden, dann erscheinen Egoismus, Gier und ähnliche moralisch verwerfliche Einstellungen als Ursachen der Ausbeutung, während die unaufhörliche Steigerung „der Produktivität“ zur Rechtfertigung des ökonomischen Prinzips schlechthin wird.
Wird nun umgekehrt der Kapitalismus vor allem theoretisch, das heißt als idealisiertes ökonomisches Modell, betrachtet, so handelt es sich um ein sehr anpassungsfähiges Ausbeutungssystem. Dieses System beruht darauf, dass Verträge unter formal Freien und Gleichen geschlossen werden. Oder anders gesagt, auf dem Papier funktioniert Ausbeutung – die Tatsache, dass die einen sich die Arbeit der anderen aneignen und von ihr leben können – auch, ohne dass diese einen die anderen direkt zwingen müssen, für sie zu arbeiten. Sklaverei und Knechtschaftsverhältnisse gelten im Gegenteil als unvereinbar mit dem theoretischen Modell kapitalistischer Ausbeutung.
Doch auch diese weitgehend idealtypische Charakterisierung des Kapitalismus beschreibt, wie seine Verurteilung als fortgesetzter Raub bestenfalls die halbe Wahrheit. Die historische Entstehung des Kapitalismus war durchgehend mit kolonialen Regimen verflochten, deren Brutalität und Rücksichtslosigkeit ohne Beispiel war und bereits bestehende Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse in vielen Teilen der Welt verstärkte, statt sie zu unterminieren.
Historisch blieb es zwar nicht bei diesen Bündnissen vorkapitalistischer und kapitalistischer Herrschaft. Sie nahmen neue Formen an und die vorkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse wurden in neo- und postkoloniale Formen der Ausbeutung und Unterdrückung transformiert. Aber ohne den sachlichen Reichtum, den sich die Kolonisator:innen auf diese Weise aneigneten, ohne die neuen Souveränitätsmodelle von militarisierten „Handelsvereinigungen“ wie den Ostindien-Kompanien, ohne Verwaltungs- und Herrschaftstechniken, die im Zuge der Kolonisierung entwickelt und erprobt wurden, ohne die neuen Organisationsformen der Arbeit, die unter den Bedingungen der Sklaverei entstanden, hätte es den Kapitalismus, wie wir ihn kennen, nie gegeben.
Offenbar stimmt also beides: Kapitalismus beruht einerseits auf Freiheit und Gleichheit und pervertiert diese andererseits zugleich so, dass sie in ihr Gegenteil umschlagen. In der kapitalistischen Ökonomie werden bestehende Ungleichheiten so ausgenutzt, dass die Ärmeren ärmer und die Unterdrückten ohnmächtiger werden – sowohl auf der Ebene der Individuen als auch der Klassen und sogar Staaten –, weil sich ihre formelle Gleichheit in eine fortgesetzte ökonomische Abhängigkeit übersetzt. Die Aufgabe einer kritischen Theorie der Gegenwart besteht darin, sich nicht in moralischer Empörung zu erschöpfen, sondern die Zusammenhänge von Freiheit, Gleichheit, Ausbeutung, Teilung und Unterdrückung zu analysieren. Die Besonderheit der Kritischen Theorie im Feld der kritischen Theorien, die sich dieser Aufgabe widmen, ist zudem, dass sie auch versucht, die Hoffnungen zu bewahren, die mit dem Versprechen von Freiheit und Gleichheit auf eine vernünftige und solidarische Einrichtung der Gesellschaft einhergehen.
Die kolonialen Eroberungen und Ausplünderungen waren nicht bloß eine historische Phase, die für die Entstehung des voll entfalteten Kapitalismus notwendig war. Die universalisierenden Tendenzen des Kapitalismus produzierten immer Gegenbilder: das Weibliche, das Unzivilisierte, das Asoziale, das raffende Kapital, die Natur. All das existierte nicht einfach, sondern wurde durch die Praktiken kapitalistischer Herrschaft hervorgebracht und durch Fantasien, die vom Kapitalismus befeuert wurden, aufgeladen.
Während beispielsweise der offizielle Kapitalismus die Differenz zwischen dem ausnutzte, was zur Reproduktion des eigenen und gesellschaftlichen Lebens benötigt wird, und jenem, was Menschen insgesamt zu produzieren vermögen, war das zur Reproduktion Nötige in den Kolonien keine Schranke der Ausbeutung. In den kolonialen Verhältnissen der „Überausbeutung“ kümmerte es nie, ob und wie die auszubeutende Arbeitskraft erhalten wird. Das materielle und geistige Elend, die Brutalität und Verzweiflung, die eine solche Ausbeutung zur Folge hatte, galt vielmehr genauso wie die Abhängigkeit und Unterordnung ganzer Staaten im kapitalistischen Weltsystem als Beleg für die Unmenschlichkeit der so Ausgebeuteten und verfestigte die rassistischen Ideologien und Einstellungen, mit denen Überausbeutung und Unmenschlichkeit gerechtfertigt wurden. Struktureller Rassismus und rassistische Einstellungen erzeugen so bis in die Gegenwart einen Teufelskreis wechselseitiger Bestätigung.
Zugleich hat der Rassismus in den politischen Debatten der Gegenwart eine Entlastungsfunktion, wenn er dafür sorgt, dass die Irrationalität der kapitalistischen Gesellschaft, die sich durch die private Aneignung gesellschaftlichen Reichtums strukturell ergibt, durch Pseudoerklärungen auf eine sogenannte „Mutter aller Probleme“ abgeschoben wird. Als wäre die Migration die Ursache chronisch unterfinanzierter Verwaltungen und Bildungssysteme, als könne sie die Konjunkturen eines von Krisen und Zinsen getriebenen Wohnungsmarktes oder das Erstarken reaktionärer Ideologien erklären. Diese Funktion der Pseudoerklärung teilt sich der Rassismus mit dem Antisemitismus, der vom Kapitalismus grundlegend transformierten Judenfeindschaft.
Das Zusammenspiel von Rassismus und Antisemitismus, ihr gemeinsames Auftreten, aber auch die Unterschiede ihrer jeweiligen Pseudologiken zu verstehen, ist eine der Herausforderungen der Gegenwart. Werden ihre komplexen Verschränkungen ausgeblendet, entsteht die Möglichkeit Antisemitismus und Rassismus immer wieder gegeneinander auszuspielen. Weder Rassismus noch Antisemitismus können als Überreste veralteter Vorurteilsstrukturen verstanden werden. Wie Faschismus, Islamismus und evangelikale Bewegungen sind sie Formen der Regression, die ohne die moderne kapitalistische Gesellschaft nicht verstanden werden können und deren Analyse daher eingebettet sein muss, in eine kritische Gesellschaftstheorie. Das Staunen darüber, dass „die Dinge“, die wir erleben, heute noch möglich sind, bleibt insofern falsch.
Die im Kommunistischen Manifest zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, dass alle neugebildeten Verhältnisse veralten, ehe sie verknöchern können, hat sich auch deshalb nicht bewahrheitet. Selbst dort, wo beispielsweise wie nach der formellen Abschaffung der Sklaverei in den USA oder nach dem Ende der Apartheid in Südafrika die Colorlines des Kapitalismus formal überwunden wurden, bleiben krasse materielle Ungleichheiten, Kontinuitäten rassistischer Gewalt, aber auch essentialisierende Fantasien über die Anderen im Kern bestehen.
Schon allein aufgrund derartig banaler Zusammenhänge ist ein angemessenes Verständnis von Rassismus, Antisemitismus und faschistischen Politikformen im Allgemeinen nicht möglich, ohne vom Kapitalismus zu reden. Doch eine Theorie der Verbindung von Regression und Kapitalismus muss mehr leisten. Der spürbare Abstand zwischen dem formalen Universalismus kapitalistischer Ausbeutung, für die Herkunft und Identität der Arbeitskräfte erst einmal unerheblich zu sein scheint, und den vielfachen Abstufungen und Hierarchisierungen zwischen ausgebeuteten, überausgebeuteten, von offizieller Ausbeutung ausgeschlossenen und gänzlich für überflüssig erklärten Gruppen und Weltregionen ist konstitutiv für die Politik im Kapitalismus. Immer gilt es für die emanzipatorischen Kräfte, das noch nicht abgegoltene und auch vom Kapitalismus mobilisierte universalistische Versprechen von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen, während praktisch Differenzen produziert und verschärft sowie weiter zur Steigerung des Profits, der Fortführung männlicher Herrschaft oder der Externalisierung gesellschaftlicher Widersprüche ausgebeutet werden.
Die Kritische Theorie hatte von Anfang an das Ziel, die sozialen, psychischen und ökologischen Verheerungen des Kapitalismus kenntlich zu machen. Sie bewegte sich dabei in einem Spannungsfeld: Einerseits will sie das – freilich nicht positiv ausformulierte – Versprechen auf universelle Befreiung und Rationalität retten, andererseits sieht sie aber als Voraussetzung einer solchen Rettung an, dass wir die Verflechtungen von sexistischer, antisemitischer und rassistischer Unterdrückung mit den für den Kapitalismus spezifischen universalisierenden und rationalisierenden Tendenzen verstehen.
Unter der Überschrift The Colors of Capitalism untersucht das Centre for Social Critique im Jahr 2024/25 insbesondere die Zusammenhänge von Rassismus und Antisemitismus mit dem Kapitalismus der Gegenwart, der scheinbar tolerant, weltoffen und multikulturell ist, in dem aber zugleich Autoritarismus, faschistische Tendenzen und Ideologien, die jeder Rationalität Hohn sprechen, blühen. Die Analysen solcher Widersprüche eröffnen ein neues Verständnis des Kapitalismus, in dem nicht nur die Gleichzeitigkeit von Rationalität und Irrationalität gedacht werden kann, sondern beide konstitutiv aufeinander bezogen sind, sodass sie nicht einfach koexistieren, sondern nur zusammen begriffen werden können. Die Arbeit an dieser Art von Analysen ist eingebettet in Bemühungen um die Reformulierung des Programms der Kritischen Theorie, die Irrationalität des Rationalen zu kritisieren, um eine vernünftigere Gesellschaft zu ermöglichen.