Welche Gesellschaftstheorie braucht eine Kritische Theorie heute?

at Work
Dezember 9, 2021

Braucht es heute noch eine umfassende Gesellschaftstheorie, die den Zusammenhang und die Wechselwirkung der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären klärt? In ihrem einflussreichen Aufsatz „Gender as Seriality“ von 1994 ist Iris Marion Young skeptisch. Viel Aufwand sei in Theorien geflossen, die keinen besonderen Zweck verfolgten als „to understand, to reveal the way things are“. Jetzt aber sei es an der Zeit pragmatischer vorzugehen, das heißt: „driven by some problem that has ultimate practical importance and […] not concerned to give an account of a whole“. Nichts kann dagegen sprechen sich mit solchen praktischen Problemen auseinanderzusetzen – im Fall Youngs handelt es sich um die Frage, die Gemeinsamkeit sexistischer Diskriminierungserfahrungen zu bestimmen, angesichts der radikal unterschiedlichen sozialen Lagen, in denen solche Erfahrungen gemacht werden. Aber die Frage, die Young stellt, ist eine Frage von eminenter praktischer Wichtigkeit für den Feminismus und scheint als Frage nach dem Zusammenhang sozialer Phänomene doch wieder auf den Horizont einer Gesellschaftstheorie zu verweisen. Denn genau das hat eine Gesellschaftstheorie zu leisten: Sie muss die Verbindungen aufzeigen, die zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen und damit zwischen den dort gemachten Erfahrungen bestehen.

Oft genug haben gesellschaftstheoretischen Entwürfe versucht, diese Aufgabe zu bewältigen, indem sie klare Hierarchien und Ableitungsverhältnisse postulierten. Und es war diese Strategie, die Gesellschaftstheorie für viele der neuen sozialen Bewegungen unattraktiv gemacht hat. Heute jedoch steht die Frage nach dem, was die Erbinnen dieser Bewegungen miteinander verbindet oder es zumindest erlaubt, die Konflikte zwischen ihnen auf einer theoretischen Ebene zu bearbeiten. Sollen die vielgestaltigen konkreten Erfahrungen der Ausbeutung, der Diskriminierungen, des Ausschlusses und so weiter nicht auf einen ebenso abstrakten wie politisch wirkungslosen Nenner wie „Leid“ oder „Ungerechtigkeit“ heruntergebrochen werden, muss dann nicht wieder die Stunde von Theorien schlagen, die versprechen die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Zusammenhang zu rekonstruieren?

Der Workshop nähert sich dieser Frage, indem in ihm die Kandidatinnen diskutiert werden, an die gesellschaftstheoretische Versuche heute wieder anknüpfen können. Wir diskutieren dazu mit Lillian Cicerchia, Victor Kempf, Kristina Lepold, Kolja Möller, Dirk Quadflieg, Hartmut Rosa, Martin Saar und Titus Stahl.

 

Ablaufplan

Donnerstag
14:00-14:30 Einführung
14:30-15:30 Kolja Möller: Worauf beruht die Kritik der kritischen Systemtheorie?
15:30-16:30 Lillian Cicerchia:
17:00-18:00 Victor Kempf: Ist der kommunikative Rationalitätsstandard als Kritikstandard zu halten?
18:00-19:00 Titus Stahl: Ist Herrschaft der Zentralbegriff einer aktuellen Gesellschaftstheorie?

Freitag
14:00-15:00 Martin Saar: Wie gelingt der Sprung von der allgemeinen Analyse der Machtverhältnisse zur konkreten Gesellschaftsanalyse?
15:00-16:00 Hartmut Rosa: Wie hängen Deutungsnotwendigkeit und Steigerungsimperativ zusammen?
16:30-17:30 Dirk Quadflieg: Was heißt gesellschaftliche Totalität?
17:30-18:30 Abschlussdiskussion

Welche Gesellschaftstheorie braucht eine Kritische Theorie heute?