Der Begriff der „sozialen Pathologie“ erfährt in der Sozialphilosophie gegenwärtig neue Aufmerksamkeit. Axel Honneth prägt den Begriff in seinem 1994 erschienenen Aufsatz „Pathologien des Sozialen: Tradition und Aufgabe der Sozialphilosophie“ in einer für die gegenwärtige Diskussion maßgeblichen Weise: Er versteht unter sozialen Pathologien Fehlentwicklungen bzw. Störungen der sozialen Bedingungen individueller Selbstverwirklichung. Indem die Sozialphilosophie negativistisch solche sozialen Pathologien in den Blick nimmt soll es möglich sein, auch unter Bedingungen eines modernen Pluralismus von Konzeptionen des Guten eine Gesellschaftskritik zu formulieren, die sich nicht in der Formulierung von Gerechtigkeitsgrundsätzen erschöpft, sondern zumindest einen „formaler Begriff des Guten“ einbezieht. Die klassischen Begriffe einer solchen Diagnose sind Begriff wie „Entfremdung“, „Verdinglichung“ oder „Anomie“. Indem sie sich maßgeblich an den zutage tretenden Störungen des sozialen Lebens orientiert, die die Selbstverwirklichung der Individuen beeinträchtigen, wird die Sozialphilosophie zur „Statthalterin einer ethischen Perspektive“. Unter dieser Perspektive lässt sich Honneth zufolge eine ganze Reihe von sozialphilosophischen Positionen in einen Problemzusammenhang stellen, die von Rousseau über Hegel, Marx, Nietzsche und die Frankfurter Schule bis zu Hannah Arendt, Michel Foucault und Charles Taylor reicht.
Im Zentrum des Workshops werden die aktuellen Überlegungen Frederick Neuhousers (Columbia University, NYC, USA) stehen, die Zeitdiagnosen und sozialphilosophischen Konzeptionen von Rousseau, Hegel und Marx unter der Perspektive des Begriffs sozialer Pathologien zu interpretieren. Von diesen ausgehend soll dann der Gehalt des Konzepts „sozialer Pathologien“ und seine Produktivität für die sozialphilosophische Diskussion weiterführend thematisiert werden. Neuhouser knüpft hier an die in seinen beiden einflussreichen Monographien Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom (Harvard UP, 2000) und Pathologien der Selbstliebe: Freiheit und Anerkennung bei Rousseau (engl. 2008, dt. Suhrkamp 2012) und zahlreichen Aufsätzen entwickelten Untersuchungen an.
Organisiert von Prof. Dr. Rahel Jaeggi