Anlässlich der Publikation seiner Dissertation stellte Victor Kempf seine Überlegungen zur zeitgenössischen Kapitalismuskritik zur Diskussion. (Kommentar von Eva von Redecker. Moderiert von Daniel Loick)
Der “Exodus” aus den Vermittlungsfiguren der bürgerlichen Gesellschaft ist zu einem populären Ansatz der radikalen Kapitalismuskritik geworden. Doch wodurch ist diese Fundamentalzurückweisung einer immanenten Einklagung der Freiheits- und Gleichheitsversprechen des modernen Marktes genau begründet? Sind die bürgerlichen Kerninstitutionen des Eigentums und des Tausches selbst bereits mit einer unüberwindbaren Klassenstruktur versehen, wie neomarxistische Kritiker behaupten? Oder liegt das Problem in einer historischen Unterordnung des “gleichen Tausches” unter asymmetrische Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse, die es gesellschaftstheoretisch zu rekonstruieren und politisch zu durchbrechen gilt? In seiner sozialphilosophischen Studie argumentiert Victor Kempf für letztere Option, auch weil der kommunistische “Exodus” aus dem bürgerlichen Tauschmodell seinen normativen Preis hat.
Die bürgerliche Anerkennungssphäre des Marktes scheint hartnäckig mit der Ungleichheit der kapitalistischen Klassengesellschaft verschränkt zu sein. Radikalreformistische Perspektiven einer Einlösung ihres immanenten Versprechen des “gleichen Tausches” oder des “zwanglosen Vertrages” stoßen daher auf eine unüberwindbare Limitierung, sodass nur noch ein “Exodus” aus diesem normativen Vermittlungs- und Fortschrittsmodell tatsächliche gesellschaftliche Autonomie realisieren kann. Dies ist zumindest die postoperaistische Diagnose Antonio Negris und Michael Hardts, deren Bedeutung sich in diversen Formen der “kommunistischen” Desertion aus den hegemonialen Tausch- und Eigentumsverhältnissen zeigt. Die mikropolitisch verfassten “Commons” sind hierfür ein Stichwort geworden.
An diesem Punkt hält Victor Kempfs jüngst erschienene Dissertation inne. Mit Rückgriff vor allem auf die Anerkennungstheorie Axel Honneths versucht er die Idee einer Kapitalismuskritik, die immanent an den Freiheits- und Gleichheitsunterstellungen des modernen Marktes anknüpft, im Ansatz gegen ihre marxistische Fundamentalzurückweisung zu verteidigen. In der Beschäftigung mit der operaistischen Kritik des Reformismus arbeitet er aber gleichzeitig heraus, wie dieser immanente oder radikalreformistische Emanzipationsansatz in seiner historischen Ausführung den Gehalt seiner egalitaristischen Bestrebungen im Namen des Wachstums und Allgemeinwohls den Bedingungen der kapitalistischen Klassengesellschaft unterworfen hat. Da nun jedoch der postoperaistische “Exodus” in Konsequenz daraus die bürgerlichen Vermittlungsformen des Tausch gänzlich hinter sich lassen und durch eine normativ höchst problematische Wechselseitigkeit der “Liebe” ersetzen möchte, argumentiert Victor Kempf für eine Re-Radikalisierung der reformistischen Kapitalismuskritik, die ihren egalitaristischen Grundimpuls wieder schärft und von seiner kapitalistischen Deformation befreit.