Agents of Possibility: The Complexity of Social Change

June 14-16, 6-8 PM
Staatsbibliothek zu Berlin Potsdamerstraße 33, Berlin

Topic

Sally Haslanger ist Philosophin am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Als aktive Feministin und Antirassistin wird sie in ihren Vorträgen mit dem Titel „Agents of Possibility“ über die Komplexität gesellschaftlicher Veränderungen sprechen und über die entscheidenden Rollen, die sowohl sozialen Bewegungen als auch der Gesellschaftstheorie dabei jeweils zukommen.

Topic

Gesellschaften werden nicht geplant oder ins Werk gesetzt. Sie sind komplexe dynamische Gebilde wie Herzen, Ameisenhaufen, Ökonomien und Ökosysteme. Auch wenn Gesetzgebungsorgane und politische Strateg:innen versuchen, gesellschaftliche Verhältnisse herbeizuführen und zu beeinflussen – was keineswegs folgenlos bleibt –, die Kontrolle erlangen sie damit nicht. Selbst Einflussnahmen, die von großer Sachkenntnis und moralischen Erwägungen geprägt sind, können unvorhergesehene und oft sogar schädliche Konsequenzen haben. Die Gesellschaft hat sozusagen ein Eigenleben, und vieles von dem, was passiert, wurde weder zuvor entworfen noch war es gewollt.

Hinzu kommt, dass Akteur:innen von den sozialen Systemen geprägt werden, in die sie eingebunden sind. Wir „passen“ uns in die Nischen gesellschaftlicher Strukturen ein, indem wir die Regeln verinnerlichen, die für unsere jeweiligen gesellschaftlichen Positionen entscheidend sind – es ist eben unvermeidlich, dass wir uns zu den herrschenden Bedingungen mit anderen koordinieren. Sich auch nur vorzustellen, aus dem System auszubrechen oder es maßgeblich zu beeinflussen und zu verändern, ist deshalb nicht einfach. All das kann beunruhigend sein: Es lässt sich nur schwer ausmachen, wie wir über den Horizont des gegenwärtig Gegebenen hinausblicken und einen substanziellen Wandel herbeiführen könnten – und selbst, wenn wir den Versuch wagen, liegen die Auswirkungen unseres Bemühens weit jenseits unseres Einflusses. Was können wir also tun, um eine bessere, gerechtere Welt voranzubringen?

In den Benjamin Lectures wird es darum gehen, wie eine Gesellschaftstheorie, die in der Lage ist, dynamische Systeme zu erfassen, helfen kann, gesellschaftliche Stabilität und radikalen gesellschaftlichen Wandel zu verstehen. Zu den hervorstechendsten Eigenschaften gegenwärtiger Gesellschaften zählt die Langlebigkeit von struktureller Ungerechtigkeit, struktureller Unterdrückung und strukturellem Leid. Und doch gibt es auch Zeiten, in denen sich Veränderung bemerkenswert schnell vollzieht, wie im Fall der Bewegung, die in den USA die Ehe für alle durchgesetzt hat. Wie sollten wir das systematische Zusammenspiel zwischen den weitreichenden Strukturen „race“, Klasse und Geschlecht verstehen? Welche Methoden sind für die Förderung positiven gesellschaftlichen Wandels vielversprechend? Auf welcher Grundlage nehmen wir auf jene gesellschaftlichen Systeme Einfluss, die Koordination ermöglichen – vor allem, wenn deren Störung zunächst eine Verschlechterung bewirkt, bevor es besser wird?

Mittwoch, 14.06

Wer hat hier das Sagen? Mikro-, Meso- und Makroeingriffe

Gesellschaften sind komplexe dynamische Systeme. Sie organisieren sich aufgrund ihrer inneren Struktur folglich selbst – ganz ohne zentrale Leitung. In diesem Vortrag will ich zeigen, dass die Struktur eines sozialen Systems von gesellschaftlichen Praktiken getragen wird, die es uns ermöglichen uns aufeinander abzustimmen und miteinander zu kommunizieren. Solche Praktiken beruhen auf einer Anzahl von Werkzeugen – einer „kulturellen technē“ –, mit denen wir materielle Bedingungen kollektiv interpretieren und auf sie ebenfalls kollektiv reagieren. Die Struktur formt und begrenzt Handlungsfähigkeit, aber die Möglichkeiten menschlicher Improvisation, stofflicher Eingriffe und politischer Organisation können – zumindest auf lokaler Ebene – auf die Entwicklung des Systems Einfluss nehmen. Das Verständnis der Ansatzpunkte, die ein System bieten, kann Aktivismus leiten und vernetzter lokaler Wandel kann prinzipiell eine weitreichende Wirksamkeit entfalten.

Donnerstag, 15.06

Partizipatives Design gesellschaftlicher Eingriffe

Der Einsatz dafür, dass diejenigen, die von Unterdrückung betroffen sind, zur Lösung ihrer eignen Probleme befähigt werden, gehört zu den wichtigen Eigenschaften theoretischer Projekte, die gesellschaftliche Gerechtigkeit fördern wollen. Für diesen Ansatz sprechen zwei Gründe. Erstens haben die Unterdrückten ein Wissen, das aus ihrer gesellschaftlichen Position erwächst und das anderen fehlt. Zweitens kann – gerade weil sowohl Wissen als auch Werte durch gesellschaftliche Praktiken geformt werden – die kollektive Auseinandersetzung mit historisch und materiell verankerten Praktiken einen neuen Handlungsrahmen erzeugen, der eine kreative und potenziell emanzipatorische Neustrukturierung sozialer Beziehungen ermöglicht. Ich werde darstellen, wie eine solche Pfadabhängigkeit von Werten durchaus damit vereinbar ist, dass objektiv bestimmt werden kann, was gesellschaftliche Gerechtigkeit ist, auch wenn diese Bestimmung nicht rein theoretisch erfolgen kann.

Freitag, 16.06

Wer kümmert sich? Netzwerke des Wissens und der Solidarität

Jahrzehntelang haben sozialistische Feministinnen darauf bestanden, dass ein richtiges Verständnis der Gesellschaft (und insbesondere von kapitalistischen Gesellschaften) auch die Aufmerksamkeit für die Reproduktion der Gesellschaft erfordert, das heißt, für „die Handlungen und Haltungen, Verhaltensweisen und Verantwortlichkeiten, sowie Gefühle und Beziehungen, die – alltäglich und intergenerationell – direkt an der Erhaltung des Lebens beteiligt sind“ (Brenner und Laslett). Ein Ansatz, die Reproduktion der Gesellschaft zu verstehen, ist ihre Verortung im Patriarchat, das als eines von mehreren Systemen angesehen wird, die wechselseitig aufeinander einwirken (weitere sind unter anderem der Kapitalismus und das System weißer Vorherrschaft). In diesem Vortrag werde ich dafür argumentieren, dass sich unsere aktuelle gesellschaftliche Formation besser als ein einziges (patriarchalisches, kapitalistisches, rassistisches) System verstehen lässt, aber als eines, in dem sich vielfältige Dynamiken oder „Logiken“ der Unterdrückung überlagern und spezifische Unterdrückungsformen hervorbringen. Darüber hinaus will ich erläutern, warum das für die Entwicklung einer Agenda der feministischen Politik um Sorgearbeit bedeutsam ist, und die Möglichkeiten fundamentaler gesellschaftlicher Veränderung ausleuchten, die eine solche Perspektive eröffnet.










Sally Haslanger ist international eine einzigartige Stimme der Gesellschaftskritik. Mit analytischer Klarheit und gesellschaftstheoretischem Anspruch erklärt sie, warum Ideologien wirken und welche Grundlagen Sexismus und Rassismus haben. In ihren philosophisch und sozialtheoretisch bahnbrechenden Arbeiten, die von großer geistiger Freiheit und einem langen gesellschaftspolitischen Engagement Zeugnis ablegen, entwickelt Haslanger eine zeitgemäße Kritik der strukturellen Ungerechtigkeiten, die die heutige Gesellschaft prägen. Anschaulich führt sie vor, wie die Gesellschaft deshalb verändert werden muss, aber auch wie sie tatsächlich verändert werden kann. In ihren Arbeiten verknüpft sie, um Schul- und Disziplingrenzen unbekümmert, ganz selbstverständlich Überlegungen verschiedener gesellschaftskritischer Ansätze und überwindet auf inspirierende Weise das Gefälle zwischen der Analyse grundlegender Strukturen und den Problemen des alltäglichen Handelns. Dabei nimmt sie die Rolle von Philosophie und Universität in der Gesellschaft genauso in den Blick wie Themen, die im Rahmen von Familie und Elternschaft verhandelt werden.

Sally Haslanger ist Ford Professor für Philosophie am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und lehrt dort auch im Programm für Frauen- und Geschlechterforschung. Ihre Überlegungen hat sie in zahlreichen einflussreichen Aufsätzen veröffentlicht, von denen eine Auswahl 2021 unter dem Titel Der Wirklichkeit widerstehen – Soziale Konstruktion und Sozialkritik (Suhrkamp) in deutscher Übersetzung erschienen ist. Haslanger ist Koautorin von What Is Race? Four Philosophical Views (Oxford University Press 2019) und arbeitet gegenwärtig an einem Buch mit dem Titel Doing Justice to the Social.

Werden die Benjamin Lectures aufgenommen oder live übertragen?

Die Lectures werden aufgenommen und anschließend auf unserem YouTube-Kanal und dieser Website veröffentlicht. Es gibt keine Liveübertragung.

 

Ist eine Anmeldung nötig, um die Lectures zu besuchen?

Der Eintritt ist frei und eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Die Anzahl der Plätze im Otto-Braun-Saals ist allerdings auf 400 begrenzt.

 

Auf welcher Sprache werden die Lectures gehalten? Wird eine Simultanübersetzung angeboten?

Die Lectures werden auf Englisch gehalten. Es wird keine Simultanübersetzung geben.

 

Ist der Veranstaltungsort barrierefrei?

Der Otto-Braun-Saal ist leider nur über Treppen zugänglich. Es gibt nur sehr wenige Plätze für Rollstuhlfahrer:innen, wir bitten diese daher sich unter philohsc(at)hu-berlin.de anzumelden.

 

Können auch einzelne Lectures besucht werden?

Die Lectures bauen aufeinander auf. Trotzdem kann jede Lecture auch ohne die jeweils anderen besucht werden.

„Hier kommt dann die Theorie ins Spiel“ – Sally Haslanger im Interview mit Rahel Jaeggi und Robin Celikates, agora 42.
„Um einen sozialen Wandel zu bewirken, müssen wir die Kultur verändern“ – Sally Haslanger im Interview mit Friedrich Weißbach, Philosophie Magazin.

„Auch winzigen Veränderungen können einen kaskadenartigen Effekt haben“ – Sally Haslanger im Gespräch mit Peter Neumann, Zeit Online, 13.06.2023

„Wie Kapitalismus, Patriarchat und ‚Race‘ zusammenwirken. Querverbindungen im Nachdenken über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen: Die amerikanische Philosophin Sally Haslanger hält die Walter-Benjamin-Lectures in Berlin.“ – von Peter Körte, FAZ, 16.06.2023

„Sally Haslanger bei den Benjamin Lectures: Theorie der Trippelschritte“ – ein Beitrag von Friedrich Weißbach, Freitag, 20.06.2023

„Good Luck!“ – ein Bericht zu den „Walter Benjamin Lectures“ von Sally Haslanger am 14., 15. und 16. Juni von Martin Bauer, Soziopolis, 22.06.2023

„Denken und Handeln verändern“: Sally Haslanger über sozialen Wandel – ein Interview mit Tobias Bachmann, TAZ, 12.07.2023

 

 

„Hier kommt dann die Theorie ins Spiel“

Sally Haslanger über das Verhältnis von Philosophie und Aktivismus. Download pdf-file here. 

Du betonst immer wieder Deinen Glauben an soziale Bewegungen und dass Du für Demonstrationen einen gepackten durchsichtigen Rucksack bereitstehen hast. Wie kam es dazu? Welche sozialen Bewegungen waren am wichtigsten und prägendsten in Deiner politischen Sozialisation?

Als ich ins College ging, hatte ich wirklich keine Ahnung von Feminismus. In meiner Selbstwahrnehmung war ich einfach frei, selbstbestimmt und zu allem fähig. Aber mein Bruder sagte immer wieder: „Warte nur ab!“ Und dann geschah einiges. Ich wurde überfallen. Und plötzlich traf mich Wirklichkeit wie ein Blitz ins Mark. Ich verstand auf einmal warum er das immer sagte.

Ich veränderte mich ziemlich rasch und engagierte mich für verschiedene Spielarten des Feminismus. Einen persönlichen Höhepunkt erlebte ich, als ich mich dafür einsetzte, dass an der University of California in Berkeley der Schutz vor sexuellen Belästigungen verbessert wurde. Das war in den späten Siebzigern als sexuelle Belästigung noch ein ziemlich neues Konzept war. Wir waren nur ein Haufen bunt zusammengewürfelter Student:innen, die demonstrierten und zu dem Thema eine Weile gearbeitet hatten. Die Anwält:innen der Universität wollten mit dem Kern der Gruppe reden, aber wir wussten nicht viel über Gesetze. Eine Freundin sagte: „Ich glaube Catharine MacKinnon ist dieses Jahr in Stanford. Vielleicht sollten wir sie anrufen und fragen, ob sie mitkommt.“ Wir alle sagten: „Echt? Denkst du, sie würde das machen?“ Wir riefen an und sie traf sich tatsächlich mit uns und den Anwält:innen der Universität um über sexuelle Belästigung zu reden und darüber, was aus den Gesetzen gegen sexuelle Belästigung folgt. Für mich hieß das: „Ja, das war ein Sieg!“

Ich war damals auch an der frühen Phase der Anti-Pornographie-Bewegung beteiligt. Deren Slogan war: „Pornographie verbreitet Lügen über Frauen.“ Ein paar meiner engen Freund:innen waren ebenfalls Aktivist:innen. Wir organisierten Demonstrationen, …

Zur selben Zeit habe ich mich an der Uni hauptsächlich mit analytischer Metaphysik herumgeschlagen. Sozial- oder politische Philosophie habe ich überhaupt nicht gemacht. Philosophie und mein Aktivismus waren zwei säuberlich voneinander getrennte Teile meines Lebens, denn es gab damals gar keine Seminare zu feministischer Philosophie oder feministischer Theorie oder überhaupt etwas in dieser Richtung. Wir organisierten also Lesegruppen und Demonstrationen.

Wie kamen diese getrennten Teile Deines Lebens dann doch wieder zusammen?

Bei meinem ersten Job in Irvine wurde ich unter anderem angestellt, um Frauenstudien zu unterrichten. Das Studienfach wurde damals gerade etabliert. Aber ich hatte nie ein Seminar zu Frauenstudien besucht. Ich wusste nur, was ich mir selbst beigebracht hatte und was mir meine aktivistischen Freund:innen beigebracht hatten. Als ich auf dem Campus ankam, traf ich mich mit der Direktorin der Frauenstudien und sie sagte: „Weißt du, wir sind wirklich froh, dich hier zu haben. Dein Seminarplan ist toll. Aber eine Frage habe ich noch: Warum bist du am Institut für Philosophie?“ Und ich sagte: „Naja, ich habe einen Doktortitel in Philosophie. Das ist es, was ich mache.“ Sie konnte es aber trotzdem nicht verstehen. Was Frauen anging, war die Geschichte der analytischen Philosophie wirklich schlimm und irgendeinen nennenswerten Feminismus gab es da auch nicht.

Also arbeitete ich zum Feminismus weiterhin vorrangig im aktivistischen Teil meines Lebens, aber nicht in meiner Forschung. Dann wurde ich jedoch gebeten etwas für ein Buch über feministische Philosophie zu schreiben, das von Louise Anthony und Charlotte Witte herausgegeben wurde. Und ich sagte: „Nun, ich mache keine feministische Philosophie.“ Und die beiden darauf: „Nun, du weißt eine Menge über feministische Theorie und du weißt wie man philosophiert, also mach einfach.“ Und so schrieb ich einen Aufsatz über Catharine MacKinnons Arbeiten mit dem Titel „Über das Objektiv-Sein und das Objektiviert-Werden“. Das war mein erster Aufsatz zur feministischen Philosophie und von da an gab es kein Zurück.

Antirassismus war ebenfalls ein wichtiges Thema für mich. Im Zusammenhang damit musste ich in meinem Leben wichtige Entscheidungen treffen. Wie kann ich für die black community eintreten und sie unterstützen, obwohl ich ihr selbst nicht angehöre? Wie macht man so etwas? Was ist das für ein Engagement und wann bin ich erwünscht, wann unerwünscht? Mein ernsthafter Versuch, eine gute Verbündete der black community zu sein und mit ihr zusammenzuarbeiten ohne die Grenzen dieser Bestrebungen zu überschreiten, hat wirklich eine lange, die letzten Jahrzehnte umfassende Geschichte. Ich glaube, das war eine wirklich tiefgehende Erfahrung des Lernens für mich: Wie man Bündnisse schließt, sowohl in der Philosophie und der Theorie als auch im Aktivismus. Ich habe versucht, Bündnisse zwischen Gruppen zu schließen, die für Rechte von Frauen, für LGBTQ-Rechte und die Befreiung von rassistischer Benachteiligung eintraten. Das war nicht einfach, aber es ist etwas, an das ich ganz fest glaube und wozu ich auch meine Kinder erzogen habe. Das ist also wirklich sinnstiftend für mich gewesen.

Kannst Du noch ein wenig mehr zum Verhältnis Deines akademischen Lebens zum Aktivismus mit Gruppen außerhalb der Universität sagen? Welche Spannungen birgt das?

Nun, nachdem ich meinen Doktorgrad erlangt hatte, dachte ich einige Male daran, meinen Job als akademische Philosophin aufzugeben und Aktivistin zu werden. Aber eine der Herausforderungen war für mich, dass ich in diesen Gruppen immer viel zurückhaltender war als andere, wenn es darum ging zu handeln, ohne schon eine Analyse der Situation zu haben. Die Leute sagten: „Das machen wir jetzt!“ Und ich erwiderte: „Ich glaube wir brauchen erst einmal einen Lesekreis zu dem Thema.“ Und dann lachten sie mich aus. Selbst in Zusammenhängen, wo niemand meinen akademischen Hintergrund kannte, hatte ich bald den Ruf, vorsichtig und unsicher zu sein, was die Schritte betraf, die man als Aktivist:in gehen müsse. Dadurch kam ich zu der Einsicht, dass ich in aktivistischen Kreisen nicht gerade eine gute Führungsfigur abgab.

Wenn man Menschen für etwas organisiert, dann bedarf es im Aktivismus einer Art schöpferischer Vorstellungskraft. Und ich fühlte, dass mir persönlich genau das fehlte. Ich hatte nie das Gefühl: „Oh das könnten wir machen, und es würde funktionieren.“ Deshalb bestand mein Engagement für Bewegungen und auch mein Engagement für die black community mehr im Gefühl des Sich-Verpflichtens und der Bereitschaft, die anfallenden Routinetätigkeiten zu erledigen. Die Bereitschaft, den Boden zu fegen, das Geschirr zu waschen, Schilder zu malen und dergleichen. Und von jenen zu lernen, die diese schöpferische Sensibilität für die Augenblicke haben, in denen etwas vorangeht.

Ich bin gut darin, verlässlich dabei zu sein. Ich bin gut darin, mich zu verpflichten. Ich bin gut darin, Netzwerke und Verbindungen zu schaffen, aber ich bin nicht gut darin zu entscheiden, was zu tun ist, und zu planen, wie es getan wird.

Und diese Vorsicht zusammen mit dem dringenden Bedürfnis nach Analysen hat Dich dann wieder zur Philosophie getrieben?

Ja, genauso war es. Ich hatte immer Fragen und Bedenken und wollte immer eine Analyse. Und damit beschäftige ich mich jetzt: Ich verbringe eine Menge Zeit mit diagnostischen Arbeiten, in denen ich versuche herauszufinden, worum es genau geht, wo die Ansatzpunkte sind, weil das immer etwas war, das ich in den aktivistischen Kontexten, in denen ich mich bewegte, sehr schwierig fand.

Inwiefern denkst Du kann Theorie die politische Praxis verändern? Denn so wie ich es verstehe, soll die Arbeit, die Du jetzt machst, die politische Praxis genauso informieren, wie sie von ihr informiert ist. 

Für mich ist meine Arbeit weniger durch die Arbeit vor Ort informiert, als dass sie sich mit ihr im Austausch befindet. Nimm das Beispiel der sexuellen Belästigung. Es gab Zeiten, in denen die Strategie verfolgt wurde, Gesetzesreformen zu erreichen. Aber die Erfahrung hat gelehrt, dass es mehr braucht. Denk nur an die #MeToo-Bewegung. Die fand Jahrzehnte nachdem die Gesetze gegen sexuelle Belästigung verabschiedet wurden statt. Was wir brauchten waren daher Bemühungen, die Kultur zu verändern und ein Bewusstsein zu schaffen, so wichtig geworden. Aber wie macht man das?

Mich beunruhigte mit der Zeit, dass viele der üblichen Taktiken gar nicht die breite Wirkung entfalteten, die nötig wäre, um dem Zum-Sexobjekt-Machen ein Ende zu setzen. Ein Teil meiner Arbeit war daher darüber nachzudenken, wie sich die Relevanz des Gesetzes, die Relevanz der Ökonomie, die Relevanz der Kultur, wie sich die Relevanz all dieser unterschiedlichen Elemente von Gesellschaft zusammenbringen lässt, sodass wir über gesellschaftlichen Wandel ganzheitlicher nachdenken können.

In den letzten Jahren habe ich am MIT in einem Programm gearbeitet, dass versucht, mit den Methoden des Co-Designs etwas gegen die globale Armut auszurichten. Gerade interessiere ich mich für das, was „Periodenarmut“ genannt wird: junge Frauen, die sich keine Menstruationsprodukte leisten können. Das belastet sie ungeheuer. Denn weltweit ist die Menstruation schambesetzt. Fast nirgendwo sprechen die Leute gern über ihren monatlichen Zyklus. Es gibt hier im Großraum Boston ein paar Programme dazu und auch eine Gruppe in Kenia. Wir knüpfen ein Netzwerk von Menschen und die jungen Frauen entwickeln Apps. Wir geben ihnen die Ressourcen, um beispielsweise darüber nachzudenken, wie sich Teenagerschwangerschaften verhindern lassen. Das geht durch so simple Sachen, wie ein Armband, mit dessen Perlen, sie ihren Zyklus im Blick haben. Sie sehen an den Perlen ihre fruchtbarsten Tage, aber es ist eben ein Armband. Niemand weiß, wozu es dient, und nur du weißt, wie es benutzt wird.

Für mich ist die Idee ausschlaggebend, dass sich Beziehungen ändern, wenn man beginnt die Praktiken zu verändern. Wenn man in einer Gruppe von Frauen und Männern zusammensitzt und versucht, sie dazu zu bringen, die Lösung für ein Problem zu entwerfen, dann haben die Frauen richtig gute Ideen und auch die nötigen Fertigkeiten. Die Männer sagen dann: „Boah, das ist fantastisch. So etwas kannst du.“ Und sie antworten: „Ja, klar kann ich das.“ Dann verändert sich die Beziehung zwischen ihnen. Es geht darum, die Praktiken zu verändern und durch die Veränderung der Praktiken, verändert man die Beziehungen der Individuen zueinander.

Das ist etwas, in dem ich bei der Arbeit vor Ort gerade ziemlich tief drinstecke. Natürlich bringt das den globalen Kapitalismus nicht zu Fall.

Danach wollte ich gerade fragen. Wie verhält sich denn Deiner Ansicht nach dieser Ansatz der lokalen Veränderung von Praktiken zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen?

Das führt uns zurück zum Thema der Gesetzesreformen und warum die Veränderung von Gesetzen in der Regel die Dinge nicht in Ordnung bringt. Manchmal schon, aber nicht, wenn nicht eine ganzheitlichere Fähigkeit dazukommt, Praktiken auf emanzipatorische Weise zu verändern. Man kann ein Gesetz erlassen und bei den Praktiken ändert sich nichts oder die Veränderung der Praktiken schlägt ins Gegenteil um. Wenn man also über Strukturen auf dieser breiten, abstrakteren Ebene nachdenkt, muss man damit anfangen in den Lebensformen einen Raum zu öffnen, die schöpferische Vorstellungskraft zu entwickeln und andere Beziehungen miteinander einzugehen. Und dann kann es einen tieferen und weitergehenden gesellschaftlichen Wandel geben.

Wenn die Menschen anfangen zu sehen, dass sie nicht in einer bestimmten Lebensform feststecken, wächst ihre Fähigkeit, Kritik zu üben, und sie können damit beginnen, die Verbindungen zwischen der Situation zu sehen, in der sie waren, und den Verbesserungen in ihrem Leben und der Situation anderer Menschen. Dann gibt es Mitgefühl und Identifikation und einen Einsatz dafür, dass sich solche Veränderungen auch in der Breite vollziehen. So bekommt man auch breitere Bewegungen für gesellschaftliche Veränderungen, für die demokratische Kontrolle unterschiedlicher Bereiche. Wenn du nämlich erst einmal erlebst, wie sich das in deinem unmittelbaren Umfeld vollzieht und du siehst, wie sich dein eigenes Leben verändert, dann eröffnet das Möglichkeiten, sich eine bessere, eine großartige Zukunft vorzustellen.

Das mag nicht unmittelbar radikal sein, aber ich glaube, dass es ein nachhaltigeres radikales Potenzial hat.

Und es legt nahe, dass Theorie eine ziemlich wichtige Rolle spielt, denn ob man Leute organisiert, damit sie in der Lage sind, ein bestimmtes Problem auf die eine oder die andere Weise zu lösen, hängt von der Analyse ab, die man hat.

Genau. Es gibt viele Fälle im Zusammenhang mit Periodenarmut, in denen Leute einfach riesige Spenden von amerikanischen Firmen bekommen, dann im Grunde die Produkte einfach abladen und sagen: „Hier hast Du, was Du brauchst.“ Das reicht dann für sechs Monate und danach ist es vorbei. Das Ergebnis sind Mädchen die sechs Monate lang regelmäßig zur Schule gehen, dann ohne die Produkte dastehen und nicht mehr zur Schule gehen können – es gibt keinerlei Veränderung in den Beziehungen. Einer der Effekte davon, eine Theorie zu haben, ist, dass sie mir – meiner Meinung nach – sagt, Praktiken sind die Grundlage gesellschaftlicher Beziehungen, die wiederum die Grundlage der Struktur sind. Und dann ist die Struktur dynamisch und erzeugt das System. Wenn man also Strukturen und Systeme verändern will, dann ist es wirklich wichtig, bei den Praktiken anzufangen. Denn wenn die sich ändern, ändern sich die Beziehungen und dann muss sich die Struktur ändern, weil diese neuen Beziehungen gegen die Art und Weise eingegangen wurden, in der das System in der Vergangenheit funktioniert hat. Versucht man Veränderungen von oben nach unten durchzusetzen, aber die Praktiken bleiben wie sie waren, dann wird die Veränderung nicht nachhaltig sein. Sie ist nicht dauerhaft, weil die Leute in die Praktiken zurückfallen, in denen sie vorher schon befangen waren.

Indem wir uns auf eine solche Weise organisieren, befördern wir einen Prozess, in dem wir alle feststellen können: Für mich gibt es nicht nur den Moment, in dem ich plötzlich alles anders sehe, sondern in dem ich auch die Gelegenheit habe, mich anders in der Welt zu verhalten, mich in Beziehungen anders zu verhalten. Denn das Ein und Alles der Bewegungsarbeit ist es, neue Weisen zu finden, miteinander in Beziehung zu treten, und das dann in etwas sehr umfassendes und kollektives zu verwandeln. Dann kann man gemeinsam Druck nach vorn aufbauen. Daher komme ich.

In deinen Benjamin Lectures wirst Du von dem Gedanken ausgehen, dass die Gesellschaft von uns gemacht wird, aber gleichzeitig auch ein Eigenleben hat. Wie können Veränderungen trotzdem wirksam sein, wenn Strukturen und systemische Dynamiken durch unsere Veränderungsversuche gar nicht so leicht beeinflussbar sind? Wie hilft es der Arbeit vor Ort, die Verbindung zu strukturellen Dynamiken herauszuarbeiten?

Das ist eine schwierige Frage und offenkundig eine äußerst wichtige. Ich glaube, eine sehr einfache Art über Strukturen nachzudenken, ist sich die Vielfalt der unterschiedlichen Beschränkungen für unser Handeln klarzumachen: Geographie, mein eigener Körper, Biologie – all dies schränkt meine Handlungsfähigkeit ein. Aber es gibt auch noch andere Arten von Einschränkungen meiner Handlungsfähigkeit, die Teil der gebauten Umwelt sind, nicht nur Häuser, sondern auch Institutionen und derartiges. Gesellschaftliche Strukturen nenne ich die Art Einschränkungen, die gesellschaftlich erzeugt wurden. Der erste Schritt ist also zu verstehen, welche die gesellschaftlichen und welche die natürlichen Einschränkungen sind, oder welche wir potenziell überwinden können, indem wir verändern, wie wir miteinander umgehen, und welche wir nicht verändern können. Das nächste, was meiner Meinung nach ausgesprochen schwierig ist – und ich erfasse es bisher auch kaum –, ist die Frage, was passiert, wenn man anfängt etwas im System zu justieren. Wie wirkt sich das in den weiteren Verzweigungen des Systems aus? Was in einer lokalen Umgebung wie eine gute Justierung wirkt, kann in den weiteren Verzweigungen Rückschläge erzeugen und mit anderen Dingen auf eine Weise in Wechselwirkung treten, die wirklich niemand möchte. Und dann geht es um das Ausmaß, in dem die ökonomischen Dynamiken dominant und dafür verantwortlich sind, wie das System funktioniert. Oder gibt es andere Dynamiken, die beteiligt sind? Welche anderen Vektoren sind sozusagen im System entscheidend? Natürlich sind die ökonomischen Dynamiken ausgesprochen wichtig, aber ich glaube es gibt noch weitere. Manche sind materielle, wie das Klima und der Klimawandel, aber es gibt auch kulturelle Dynamiken, politische, historische.

Der Versuch, ein Gefühl für diese vielfältigen Dynamiken zu bekommen, ist meiner Überzeugung nach ausgesprochen wichtig, wenn man über gesellschaftlichen Wandel nachdenkt, denn meiner Ansicht nach sind Bewegungen oft Ein-Punkt-Bewegungen gewesen: die feministische Bewegung, die antirassistische Bewegung, die antikapitalistische Bewegung oder die post-kolonialen Bewegungen. Aber man muss verstehen, dass man nicht eins nach dem anderen machen kann. Der Versuch eine Sache zu verändern, setzt sich auf unvorhersehbare Weise kaskadenartig fort, wenn man sich nicht um die vielfältigen Faktoren kümmert, die relevant sind. Und hier kommt dann die Theorie ins Spiel.

Das Interview führten Rahel Jaeggi und Robin Celikates.
Übersetzung aus dem Englischen von Christian Schmidt.

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Übergeordnetes Thema Social Transformation 2022-2023

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