Corona im Kapitalismus: Führt die Krise zum Ende des Neoliberalismus?
Die Corona-Pandemie hält die Welt in Atem. Für wie lange noch und mit welchen gesellschaftlichen Auswirkungen ist ungewiss. Einigkeit besteht hingegen bei der Einschätzung, dass wir gegenwärtig mit einer einschneidenden Krise konfrontiert sind. Doch um was für eine Krise handelt es sich eigentlich genau? Ist es eine Krise der Gesundheitssysteme, die drohen unter dem Ansturm Schwerkranker zusammenzubrechen?
Eine Krise der Ökonomie, die in Zeiten des Lockdowns weder die Produktion noch den Verkauf von Waren organisieren kann? Eine Krise der Demokratie, weil öffentliche Meinungsbildung und Grundrechtsschutz sich in Zeiten ernsthafter Bedrohungen als zweitrangig herausstellen? Im Rahmen unserer Reihe In Context diskutieren Alex Demirović und Ulrike Herrmann über die Corona-Krise. Im Fokus stehen dabei Überlegungen zur angemessenen Krisenbeschreibung, zu den möglichen Folgen der Krise sowie zu den politischen Alternativen, die sie nahelegt.
Krisen sind – nicht nur der griechischen Ursprungsbedeutung des Wortes nach – Momente der Entscheidung. In ihnen fällt das Urteil, wie tragfähig die von ihnen betroffene Lebensform ist. Auch die Corona-Krise stößt uns nicht einfach nur zu; selbst da wo sie als unverfügbare Naturkatastrophe von außen über uns hereinzubrechen scheint wird sie zur gesellschaftlichen Krise sofern sie auf bestehende soziale Institutionen, Praktiken und Strukturen trifft. Als solche ist sie immer auch das Produkt unserer kapitalistischen (Re)Produktions- und Lebensweise und fördert tiefere Dysfunktionalitäten zutage. Umso mehr hängt davon ab, wie die Krise genau gefasst wird: Ob als Krise der Globalisierung, in der sich nicht nur die Anfälligkeit weltumspannender Lieferketten und die Gefahren des internationalen Reiseverkehrs zeigen, sondern paradoxerweise angesichts eines Virus, das keine Grenzen kennt, nationalstaatliche Besitzstandswahrung überstaatliche Solidarität übertrumpft; ob als Krise neoliberaler Austeritäts- und Privatisierungspolitik, die das Gesundheitssystem schon vor der Pandemie in einen fragilen Zustand gebracht hat; ob als Krise der Arbeit, die zeigt, dass entscheidende Tätigkeiten der sozialen Reproduktion im Care- und Logistikbereich gesellschaftlich disqualifiziert und nur unzureichend entlohnt werden; ob als Krise der sozialen Segregation, in der soziale Benachteiligung arme und diskriminierte Menschen, aber auch ganze Regionen des globalen Südens der Infektion und der ökonomischen Deprivation ungeschützt aussetzt.
Eine Pandemie führt jede Gesellschaftsform an ihre Grenzen, aber mit Blick auf die spezifisch kapitalistischen Dimensionen der Krise, stellt sich die Frage nach Schlüssen, die aus der jetzigen Situation gezogen werden sollten. Dass die Corona-Krise bestehende Probleme und Widersprüche des neoliberalen Kapitalismus verstärkt und wie unter einem Brennglas hervortreten lässt, hat zu Prognosen Anlass gegeben, der Neoliberalismus finde in der gegenwärtigen Krise sein Ende. Tatsächlich werden in der Krise bis eben noch scheinbar selbstverständlich vorherrschende Auffassungen etwa zur Staatsverschuldung oder die Logiken der Ökonomie mit Verweis auf ein höheres Gut schlagartig außer Kraft gesetzt, selbst von der staatlichen Übernahme von Industriebetrieben war sehr schnell die Rede. Doch wie steht es tatsächlich um die gesellschaftlichen Alternativen? Welches sind die
Konzepte, die im Zuge des gesellschaftlichen Schocks durchgesetzt werden können? Haben gegenüber Lösungen, die auf den starken Staat setzen, Möglichkeiten einer demokratischen Vergesellschaftung von zentralen sozialen Institutionen überhaupt eine Chance, sich zu entwickeln? Oder wird die Krise in erster Linie den Finanzmärkten nutzen und der Neoliberalismus geht gestärkt daraus hervorgehen, so dass uns nach dem Abklingen der Infektionswellen einfach eine Rückkehr zum Status quo ante bevor?